Residenz-Themenschwerpunkt: Körper Kontakte

Die Erfahrungen der Corona-Krise sind neben allen persönlichen und gesellschaftlichen Beschränkungen und Veränderungen zuallererst eine Einschreibung in unsere Körper, in jeden einzelnen. Als Akt der Solidarität werden zum Schutz vor Infektionen individuelle Körper kollektiv vom Gemeinwesen isoliert. In diesem Paradox liegt die physische Erfahrung des Körpers in der Pandemie, mit weitreichenden Konsequenzen. Denn für das Erleben von Gemeinschaft und zwischenmenschlicher Beziehung ist die Begegnung von leibhaftigen Körpern Voraussetzung. Werden körperliche Begegnungen und jegliche Formen gemeinschaftlicher Erfahrungen ausgesetzt, bedroht dies unser Gemeinwesen existenziell.

Die Corona-Krise hat zum Vorschein gebracht, wie ambivalent, entfremdet und angstbesetzt das Verhältnis zu unseren und anderen Körpern werden kann, und gleichzeitig, wie stark die Sehnsucht und das Bedürfnis nach körperlichem Kontakt ist. Jegliche Arten von Körperflüssigkeiten sind zur größten Gefahrenquelle des öffentlichen Lebens geworden. Wir haben gelernt, uns und andere zu schützen, vor Viren, vor Mutationen, vor unsichtbaren und unberechenbaren Angreifern. Unter all den Vorsichts- und Schutzmaßnahmen pulsiert und vibriert er aber, unser Körper, und erinnert uns an unsere zutiefst körperliche Natur.

Der dritte Themenschwerpunkt widmet sich dem Körper, genauer gesagt: dem Körper mit Pandemie-Erfahrung. Es wird darum gehen, den Körper als Austragungsort sozialer und politischer Phantasien wieder ins Zentrum zu rücken. Nach langer Zeit der Abstinenz wollen wir mit künstlerischen Konzepten, Alltagspraktiken und Inspirationen ein Auftanken mit physischen Energien ermöglichen.

Ausgangspunkt für diesen Themenbereich ist die neue Arbeit „anti-dry“ (AT) der Wiener Choreographin Doris Uhlich. „anti-dry“ (AT) ist der zweite Teil einer Serie, in der sich die Choreographin mit einer Substanz auseinandersetzt, zu der viele Menschen ein ambivalentes Verhältnis haben: Schleim.

„In der Pandemie ist Schleim zu einem Stoff geworden, der mit Angst behaftet ist. Er kann Träger von Coronaviren sein. Aber nicht jeder Schleim ist schlecht. Nicht jeder Rotz ist gefährlich. In der Sexualität ist Schleim ein Zeichen von Freude. Der Embryo schwimmt im Fruchtwasser, wir werden alle schleimverschmiert geboren, der Urschleim ist ein Bindeglied zwischen allen Lebensformen.“ (Doris Uhlich)

Medizinisch und biologisch gilt Schleim als Nährboden für Krankheitsüberträger wie Viren oder Bakterien und ist deshalb mit Ekel und Angst behaftet. In Science-Fiction-Filmen tritt er häufig im Zusammenhang mit Aliens auf. Er steht für das Nicht-Menschliche, das Unbekannte, das sich fließend Ausbreitende.

Dem Schleim werden viele negative Eigenschaften zugeschrieben. Er ist jedoch für die meisten Lebewesen, egal ob Menschen, Tiere oder Pflanzen, lebensnotwendig. Er ist Klebstoff, Gleitmittel, selektive Barriere, Hydrogel. Er schützt vor Austrocknung, Fremdpartikeln, Abrieb und dient als endogenes Baumaterial. Er kittet den Organismus zusammen, stellt Verbindungen her. In der Sexualität ist er ein Zeichen von Lust. Unter der Haut, in unseren Körpern, sind wir feucht, pulsiert Nässe. Wenn wir atmen, schwitzen, sprechen, husten, niesen und erregt sind, erzeugen wir schleimartige Substanzen, die nach außen dringen.
Unser Urzustand ist eine schleimige Allianz von Körpern. Unseren alltäglichen Lebensraum halten wir eher trocken. Dabei ist Schleim ein uns zutiefst vertrauter Stoff.

Ausgehend von diesen inhaltlichen Überlegungen entwickelt Doris Uhlich in Zusammenarbeit mit der Bühnenbildnerin Juliette Collas, der Materialforscherin Philomena Theuretzbacher, dem Soundkünstler Boris Kopeinig und einer Gruppe von PerformerInnen für die Residenz eine neue Bühnenarbeit. Geplant ist ein Format, bei dem das Publikum selbst in Berührung mit Schleim kommt. Face to Face. Slime to Slime.
Für „Habitat / pandemic version“ (2020) entwickelte sie in Kollaboration mit der Bühnenbildnerin Juliette Collas transparente Schutzanzüge ...

„The human organism is neither wholly human, as a person, nor just an organism. It is an abstract machine, radically immanent, which captures, transforms and produces interconnections.“
(Rosi Braidotti)

Doris Uhlich studierte „Pädagogik für zeitgenössischen Tanz“ am Konservatorium der Stadt Wien, seit 2006 entwickelt sie eigene Projekte. Ihre Produktionen stellen gängige Formate und Körperbilder in Frage: Sie arbeitet mit Menschen mit unterschiedlichen Biographien und körperlichen Einschreibungen, befragt das klassische Ballett auf seine Übersetzbarkeit in zeitgenössische Kontexte, öffnet die Tanzfläche für Menschen mit körperlicher Behinderung, zeigt die Potenziale von Nacktheit jenseits von Erotisierung und Provokation, untersucht auf vielschichtige Weise die Beziehung zwischen Mensch und Maschine oder setzt sich mit der Zukunft des menschlichen Körpers im Zeitalter seiner chirurgischen und genetischen Perfektionierung auseinander.
In der Residenz war 2017 ihre Performance „Ravemachine“ gemeinsam mit dem Tänzer Michael Turinsky zu sehen, die mit dem Nestroy-Spezialpreis für „Inklusion auf Augenhöhe“ ausgezeichnet wurde. 2018 feierte ebenfalls in der Residenz die Produktion „Every Body Electric“ Leipzig-Premiere, ein Tanzstück in Zusammenarbeit mit Menschen mit physischen Behinderungen.
Mit ihrer Serie „Habitat“ (seit 2017) bespielte Doris Uhlich mit einem nackten Ensemble u. a. die Dominikanerkirche in Krems/Österreich, die Fassade der Wiener Secession und die ehemalige Winterreithalle der k. u. k. Monarchie (Museumsquartier Wien) in ihrer bisher größten Performance mit 120 PerformerInnen.
Das Verhältnis von Körpern und neuen Technologien war Ausgangspunkt für ihr Bühnenstück „TANK“ (2019) — eine Soloperformance in einer von Motiven aus der Science-Fiction inspirierten Plexiglasröhre. Für „Habitat / pandemic version“ (2020) entwickelte sie transparente Schutzanzüge, die als eine Art weiche Körpertanks die Berührung in Zeiten der Pandemie auf der Bühne ermöglichten. Die im Verlauf der Aufführung beschlagenden Ganzkörpertanks machten die Menschen darin als schwitzende und dampfende Wesen sichtbar. Die Idee, mit dem Thema Schleim zu arbeiten, schließt inhaltlich an diese Projekte an, die Tanks verwandeln sich in schleimige Netzwerke, die trockenen, neuen Technologien werden zu feuchten Bio-Technologien.

www.dorisuhlich.at
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In Zusammenarbeit mit Doris Uhlich, Wien