F.A.Z., 18.11.2017, Feuilleton (Feuilleton), Seite 13 - Ausgabe D1, D2, D3, D3N, R0, R1 - 701 Wörter

Zu fünft im deutschen Bette

Funkelnde Fabel: Enrico Lübbe inszeniert Jelineks "Wolken.Heim" in Leipzig
Als 1988 in Bonn Elfriede Jelineks "Wolken.Heim" von Hans Hoffer uraufgeführt wurde, war sie noch keine erfolgreiche Theaterautorin (und auch der Nobelpreis für Literatur fern). Inzwischen sieht das ganz anders aus, ist sie auf allen großen Bühnen von Wien bis Hamburg präsent. Elfriede Jelineks Stücke, in denen es keine Personen und keine Handlung gibt, sondern vorwiegend Theorien und hoch verdichtete, dabei locker verbundene Wortkaskaden, werden als Textflächen bezeichnet - auf denen sich Regisseure nach Lust und Laune verausgaben können, Bauchlandung inklusive. Mit den Jahren sind diese Arbeiten umfänglicher und komplexer geworden, und der Anschein des Beliebigen ist ihnen nicht immer fern, denn wie auf Knopfdruck vermag Jelinek zu jedwedem aktuellen Ereignis ihre dramatischen Assoziationsfelder auszubreiten.

In "Wolken.Heim" ist all das schon zu erkennen, aber erheblich freier, leichter, knapper. Einen Gang zurück zu den Wurzeln des längst etablierten Theaterwunders Jelinek erlaubt sich damit am Schauspiel Leipzig nun der Intendant Enrico Lübbe, der mit "Rechnitz (Der Würgeengel)" und mit "Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen" von Aischylos und Jelinek bereits zwei ihrer späteren Werke inszeniert hat. Lübbe eröffnete jetzt mit "Wolken.Heim" die umgebaute "Diskothek", eine variabel gestaltbare zweite Spielstätte seines Hauses mit - je nach Raumkonzept - 80 bis 199 Plätzen. In Zeiten, in denen Theater eher um ihren Erhalt als um ihre Erweiterung kämpfen, stellte die Stadt Leipzig dafür 4,6 Millionen Euro zur Verfügung und profilierte sich erneut als kulturfreundliches Gemeinwesen. Die "Diskothek" wird Lübbe vorrangig für zeitgenössische Dramatik sowie für literarisch-ästhetische Experimente nutzen.

Diesmal sind die Zuschauer auf einer schmalen Tribüne untergebracht, gegenüber dem langgestreckten Bühnenbild von Titus Schade. Er wurde 1984 in Leipzig geboren, war Meisterschüler von Neo Rauch und ist ein Maler mit starkem Hang zum Kulissenartigen, Dreidimensionalen, fast Architektonischen. Für die Vielstimmigkeit des Stücks mit seinen verwoben-verwirrenden Mutmaßungen über das deutsche Wesen anhand von Zitaten von Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus Briefen der Roten Armee Fraktion entwarf er ein Environment, dem Marialena Lapata die praktische Bühnenreife gab. Sowohl gemalt als auch gebaut ist ein verwinkeltes Fachwerkhaus mit Schlafgemach und Studierstube sowie, wenn die entsprechenden Fassadenteile abgenommen werden, einem Wohnzimmer mit dem leuchtend grünen deutschen Wald samt ausgestopftem Reh zu bestaunen. Eine unheimliche Magie geht von diesem surrealen Gebäude unter leuchtenden Straßenlaternen aus, in dessen gemalten Fenstern gemalte Kerzen stehen, aus dessen Laubsäge-Schornsteinen echter Raum qualmt, während nebenan Tilo Krügel als Rapunzel das Haar bis auf den Boden hinabwirft.

Enrico Lübbe und sein Chefdramaturg Torsten Buß haben das Textkonvolut auf fünf Figuren aufgeteilt, die wie bizarre Wünschelrutengänger zwischen Mythen und Märchen nach deutscher Identität forschen, über Blut und Boden, Volk und Vaterland, Heimat und Fremde palavern. Anna Keil und Bettina Schmidt tragen bunte, ärmellose Sommerkleider und werden zwischendurch zum bösen Wolf mit Pelzmantel oder zu Rotkäppchen im Dirndl, das so tut, als würde es Geige spielen, während vom Tonband aus Robert Schumanns "Kinderszenen" ausgerechnet "Von fremden Ländern und Menschen" erklingt, natürlich auf dem Klavier interpretiert.

Immer wieder bringt Lübbe in seiner funkelnd fabulierenden und anregend aufgeladenen Inszenierung mit solchen Brechungen überraschende Bewegung in Jelineks Frühwerk und zeigt mit absurden Bildern dessen komische Momente. So lässt er Barbarossa im Prachtmantel Schallplatten hören und Rübezahl sticken oder einen Kellner in einer Art preußischem Gehrock (Kostüme: Sabine Blickenstorfer) eine Essensgesellschaft, bei der "die Neger" diffamiert werden, pantomimisch vergiften.

Am Schluss sitzt da nur mehr Hartmut Neuber als verlassener Patriarch am Tisch: "Wir suchen das Weite und fassen es." Hubert Wild hat meist den Hölderlin-Part inne ("Komm ins Offne, Freund!") und verschreckt die anderen zwischendurch als Richard Wagners böser Zwerg Mime ("Zwangvolle Plage! Müh ohne Zweck!"). Es wird im Chor gesprochen und getobt und - "Fremde wie wir" - volksliedhaft gesungen, zärtlich manches tote Tier gestreichelt, hektisch in alten Büchern geblättert, zu fünft ein einzelnes Bett bevölkert: gemütlich wie bekiffte Hippies. Mitunter ertönen gespenstische Glockenschläge, dann erstarrt dieses treudeutsche Quintett verängstigt, als wüsste es, dass seine Zeit der "Übermenschen" begrenzt ist. Nichts in Enrico Lübbes so intelligenter wie unterhaltsamer Inszenierung wirkt aufgesetzt, alle Ereignisse und Energien von den akustischen Raffinessen bis zur phantasievollen Wanderlust sind organisch an das Stück gekoppelt. Und das tut beiden richtig gut.

IRENE BAZINGER
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv