Winterreise / Winterreise
Aus und vorbei. Eine Liebe ist aus, das Leben ist vorbei. So fühlt es sich zumindest an für das Ich, das in der „Winterreise“ fluchtartig die Stadt und das bisherige Leben verlassen muss. Ob es eine freiwillige oder gezwungene Flucht ist, wird nicht ganz klar. Klar ist nur: Es ist quasi über Nacht vorbei, was eben noch eine Liebe war und eine Zukunft. Wut wechselt sich ab mit Ohnmacht und mit Erinnerung. Klar ist auch, dass es Winter ist. Draußen in der Natur — und drinnen in den Seelen.
Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“, 1827 komponiert auf Wilhelm Müllers Gedichte aus dem Jahr 1824, ist die so existenzielle wie subjektive Erkundung einer erschütterten Existenz. Generationen von Sängern und mehr und mehr auch Sängerinnen haben diesen Liederzyklus immer wieder neu interpretiert. Auch Elfriede Jelinek hat im Jahr 2011 den Kosmos der „Winterreise“ neu befragt und ins Heute gezogen. In einem ihrer leisesten und poetischsten Werke, mit den Texten Wilhelm Müllers als Wegweiser, durchwandert sie Stationen der Sehnsucht in der gegenwärtigen Welt.
Jelineks „Winterreise“ führt durch eine Gesellschaft, deren Öffentlichkeit sich auf dem Marktplatz der sozialen Medien vollzieht, in der sich Ver- und Entlieben auf digitalen Portalen wie Tinder, Grindr & Co. ereignet. Ihr Text erzählt vom Allein-sein-Wollen und vom Allein-sein-Müssen, von der fremdbestimmten Entwurzelung bis zur selbstbestimmten Weltflucht aus Unbehagen an der Gemeinschaft.
Jelineks „Winterreise“ ist nicht mehr nur die Erfahrung eines Ichs, der Text ist voller Stimmen, angeführt von ihrer eigenen. Aber auch in einem großen Stimmengewirr kann jede und jeder Einzelne genauso vergeblich emotionalen Widerhall suchen. Dafür muss man heute nicht mehr durch kalte Winterwälder laufen, dafür reicht ein Smartphone mit Flatrate.
Das Schauspiel Leipzig führt beide „Winterreisen“ zusammen und verwebt sie miteinander. Die Mehrstimmigkeit, in der Elfriede Jelinek ihre „Winterreise“ entwickelt, überträgt der Abend auf Schuberts Musik zurück – und lässt beide Werke sich chorisch begegnen. Intendant Enrico Lübbe setzt so nach „Rechnitz (Der Würgeengel)“, „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ und „Wolken.Heim“ seine Auseinandersetzung mit der bedeutendsten Dramatikerin der Gegenwart fort, die 2004 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die musikalische Leitung übernimmt mit Jürg Kienberger einer der prägendsten Theatermusiker der letzten Jahre, in den Inszenierungen etwa von Christoph Marthaler, Corinna von Rad oder Barbara Frey.
Die Bühne gestaltet Etienne Pluss, der 2019 mit dem Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ für das beste Bühnenbild ausgezeichnet worden ist, die Kostüme entwirft Bianca Deigner. Im Team mit Enrico Lübbe erarbeiteten beide u. a. „Der Gott des Gemetzels“, „Der nackte Wahnsinn“ und zuletzt „Mein Freund Harvey“ am Schauspiel Leipzig sowie Alban Bergs „Wozzeck“ in Erfurt und Richard Strauss’ „Elektra“ an der Oper Bonn.
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Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“, 1827 komponiert auf Wilhelm Müllers Gedichte aus dem Jahr 1824, ist die so existenzielle wie subjektive Erkundung einer erschütterten Existenz. Generationen von Sängern und mehr und mehr auch Sängerinnen haben diesen Liederzyklus immer wieder neu interpretiert. Auch Elfriede Jelinek hat im Jahr 2011 den Kosmos der „Winterreise“ neu befragt und ins Heute gezogen. In einem ihrer leisesten und poetischsten Werke, mit den Texten Wilhelm Müllers als Wegweiser, durchwandert sie Stationen der Sehnsucht in der gegenwärtigen Welt.
Jelineks „Winterreise“ führt durch eine Gesellschaft, deren Öffentlichkeit sich auf dem Marktplatz der sozialen Medien vollzieht, in der sich Ver- und Entlieben auf digitalen Portalen wie Tinder, Grindr & Co. ereignet. Ihr Text erzählt vom Allein-sein-Wollen und vom Allein-sein-Müssen, von der fremdbestimmten Entwurzelung bis zur selbstbestimmten Weltflucht aus Unbehagen an der Gemeinschaft.
Jelineks „Winterreise“ ist nicht mehr nur die Erfahrung eines Ichs, der Text ist voller Stimmen, angeführt von ihrer eigenen. Aber auch in einem großen Stimmengewirr kann jede und jeder Einzelne genauso vergeblich emotionalen Widerhall suchen. Dafür muss man heute nicht mehr durch kalte Winterwälder laufen, dafür reicht ein Smartphone mit Flatrate.
Das Schauspiel Leipzig führt beide „Winterreisen“ zusammen und verwebt sie miteinander. Die Mehrstimmigkeit, in der Elfriede Jelinek ihre „Winterreise“ entwickelt, überträgt der Abend auf Schuberts Musik zurück – und lässt beide Werke sich chorisch begegnen. Intendant Enrico Lübbe setzt so nach „Rechnitz (Der Würgeengel)“, „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ und „Wolken.Heim“ seine Auseinandersetzung mit der bedeutendsten Dramatikerin der Gegenwart fort, die 2004 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die musikalische Leitung übernimmt mit Jürg Kienberger einer der prägendsten Theatermusiker der letzten Jahre, in den Inszenierungen etwa von Christoph Marthaler, Corinna von Rad oder Barbara Frey.
Die Bühne gestaltet Etienne Pluss, der 2019 mit dem Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ für das beste Bühnenbild ausgezeichnet worden ist, die Kostüme entwirft Bianca Deigner. Im Team mit Enrico Lübbe erarbeiteten beide u. a. „Der Gott des Gemetzels“, „Der nackte Wahnsinn“ und zuletzt „Mein Freund Harvey“ am Schauspiel Leipzig sowie Alban Bergs „Wozzeck“ in Erfurt und Richard Strauss’ „Elektra“ an der Oper Bonn.
KULTURA EXTRA
„Er [Enrico Lübbe] setzt mit der Inszenierung Winterreise/Winterreise seine theatralen Doppelbefragungen von Stücktexten fort. [...] Das Schauspiel Leipzig ist bekannt für hervorragendes Musiktheater, und auch Regisseur Lübbe hat bereits einige Jelinekstücke inszeniert. Den Schwerpunkt legt Lübbe dann auch entsprechend der musikalischen Begleitung auf die Einsamkeit des lyrischen Ichs, das bei Müller wie auch bei Jelinek fragend umherirrt und nirgends ein Heim findet.“
Theater heute
„Regisseur Enrico Lübbe und sein Team haben den Jelinek-Text stark ausgedünnt und alle Anklänge an vergangenes Zeitgeschehen getilgt [...]. Die elegische Note ist verstärkt; die heideggernden Reflexionen über Zeit und die Unmöglichkeit, nach dem Jetzt zu greifen, rücken in den Fokus. [...] Viele Sätze sind wie Aphorismen zwischen die Lieder gestellt, gleichsam als isolierte, schillernde Bergkristalle.“
Kunst und Technik
„Mit ‚Winterreise/Winterreise‘ setzt Regisseur Enrico Lübbe nun seine Folge erfolgreicher Zwitter-Inszenierungen fort. Zwei Stücke verschränkt er an einem Abend. Da muss man kürzen, keine Frage. Viele der Lieder werden gar nicht gesungen. Zum anderen ergeben sich Synergien und Assoziationsketten, die es bei Solovorstellungen wohl so nie gegeben hätte. [...] Fast ein Viertel des Abends beeindruckt die Hellwig, die Grande Dame des Hauses. Die Wortketten Formulierkunst höchsten Grades, der Vortrag nuanciert bis ins Komma über dem Punkt.“
LVZ
„Lübbe hat […] sein Darstellerensemble in eine imposante Kulisse platziert (Bühne: Etienne Pluss). Die ist halb stillgelegter Skilift-Bahnhof, halb bürgerliches Musikzimmer im ebenso stillgelegten Zauberberg-Sanatorium. Endstation Bergstation, ein sturmgepeitschter Geisterort. […] Zusammen jedenfalls findet man hier nur im Gesang. Inmitten großer Verlassenheit und innerer Leere stiftet nur die Musik einen Rest Nähe. Eine Utopie milder Zuversicht?“
MDR Kultur
„Und wie aus dem Nichts stimmen die Elf dann ein Lied aus der ‚Winterreise‘ an: ‚Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum.‘ Refrain in Strophe drei: ‚Du fändest Ruhe dort!‘ Das Lied wird hier aber nicht wie im Original mit einer Singstimme und Klavierbegleitung präsentiert, sondern neu gesetzt vorgestellt, als Komposition für einen mehrstimmigen Chor (Musikalische Leitung: Jürg Kienberger). Das klingt wunderschön, diese traurige, sehnsuchtsvolle Musik. Doch dann rollt aus dem Tal – verkehrte Welt – eine Art Discolawine nach oben: ‚Hurra die Gams …‘ – das ist natürlich Après Ski; das ist Corona in Ischgl. Die Elf oben auf dem Berg hält mit deutschem Liedgut dagegen, verliert aber gegen die Spaßgesellschaft im Tal. Das ist der zentrale Moment und die schönste Szene des Abends; das ist die Botschaft der Inszenierung auf den Punkt gebracht.“
Mitteilungsblatt Die LINKE
„Das Ensemble zeigt eine enorme Spiellust. Hervorzuheben: Ellen Hellwig, die mit ihren starken Monologen (‚Sie führen mich dem Ende zu‘), mit ihrer Anklage gegen das Ab- schieben ins Pflegeheim, ihrer sanften Klage über die nahe Demenz, uns fesselt und zum Weinen bringt. Lächelnd, wortgewaltig, düster. Das letzte Aufbäumen vor dem Versinken ins Vergessen. [...] Enrico Lübbe hat einen eindrucksvollen Theaterabend komponiert, mit Stille, mit Anmut, mit Freiräumen.“
nachtkritik
„Wie Schuberts Leiermann dreht Lübbe, was er kann. Rhythmus und Musik waren schon immer seine wesentlichen Elemente […]. Mit der doppelten ‚Winterreise‘ hat er das geeignete Material dafür gefunden. Da ist schon die Kraft von Schuberts Kompositionen wie ‚Gute Nacht!‘ und ‚Das Wirtshaus‘, die die acht Darstellenden variierend als Kammerchor singen. Allein das berührt, klingt immer wieder anders, weil sie sich im Raum neu aufstellen. Zusätzlich kommen Wasserorgel und Klavier ins Spiel. Und die Darstellenden klopfen die Kulisse mit Wanderstöcken zwischendurch auch mal auf ihren Rhythmus ab. Dabei entstehen zum Teil starke Momente. Intensiv ist auch der Wechselgesang von Kunstlied und Après-Ski-Disko: Wenn der Chor vom ‚Hurra die Gams‘-Beat übertönt wird, ist das ein direkter Wink mit dem Schneezaunpfahl nach Ischgl.“
Premiere am 25. September 2020
Spieldauer
ca. 2:00, keine PauseBesetzung
Team
Regie: Enrico Lübbe
Bühne: Etienne Pluss
Kostüme: Bianca Deigner
Musikalische Leitung: Jürg Kienberger
Korrepetition und Bühnenmusik: Franziska Kuba, Philip Frischkorn
Dramaturgie: Torsten Buß
Licht: Ralf Riechert
Theaterpädagogische Betreuung: Babette Büchele