Auftragswerk des Schauspiel Leipzig

atlas (UA)

//Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises 2019
//Eingeladen zu den 44. Mülheimer Theatertagen — Stücke 2019
//Eingeladen zu den Autorentheatertagen 2019

und dann am ende immer die geschichte die die zeit in eine ordnung bringt was die zeit von sich aus ja nun einmal nicht hinkriegt eine ordnung die zeit schafft immer unordnung die die geschichte dann am ende aufräumen muss und wer entscheidet dann wessen zeit eigentlich weggeworfen wird wer entscheidet das dann eigentlich welche zeit in welcher geschichte eigentlich
Ein Kind, das es gar nicht hätte geben dürfen, begibt sich im Heimatland seiner Eltern auf die Suche nach der Großmutter, die ihre Tochter schon lange tot glaubt.
Und zwei junge Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben geraten in den Strudel einer nationalen Historie, in dem sich ein Wir formiert, dem sie nicht angehören.

Die Figuren in Thomas Köcks neuem Stück legen Zeugnis ab von ihren Biographien, die unsichtbar an historischen Ereignissen hängen. Die Mutter berichtet, wie sie schwanger wurde, damals, als Vertragsarbeiterin, als die sie in die DDR geholt wurde, mit dem großen Versprechen von Austausch und Bildung und Bruderland, aber eigentlich nichts davon mitbekommen hat, exakt festgelegt war ihr Leben, fünf Quadratmeter pro Person, bis sie allerdings schwanger wurde, was ja gar nicht erlaubt war. Der Vater als Dolmetscher zwischen den Welten, der das Leben genoss, bis die eine Welt kaum noch erinnerbar war und die andere plötzlich auseinanderfiel und sich lange nicht mehr zusammensetzen ließ. Sie erzählen davon, wie sie sich in den übriggebliebenen Zwischenräumen niederließen, einrichteten. Die ferne Großmutter, die auf einer anderen Flucht das Kind verlor und auf einer Insel strandete, die sich für immer in sie einschrieb. Und die Tochter, die das verbindende Glied sein möchte und dann doch in ihrer eigenen, einsamen Zeit hängen bleibt.

Die Familie bildet eine Genealogie von Aus-der-Zeit-Gefallenen, jeder in seinem individuellen Unzeit-Limbus, aus dem heraus sie sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begegnen und aneinander vorbeigehen. Aber sie sprechen sich mit ihren Erzählungen in die Geschichte hinein, in der sie nicht vorgesehen waren, und decken eine Gleichzeitigkeit von Gestern und Heute auf. In den vietnamesischen Migrationsbiographien identifiziert Thomas Köck in diesem Auftragswerk für das Schauspiel Leipzig eine evidente Aktualität, welche den Geschichten ein überzeitliches Flirren verleiht. Die Fragen bleiben brennend: Wer geht und wer kommt, wer darf ankommen, wie viel wert ist ein Leben, wessen Geschichte wird gehört, wer sind wir und wer sind die anderen?

Nach dem Leipziger Nachspiel von „paradies fluten (verirrte sinfonie)“ ist „atlas“ das zweite Stück von Thomas Köck, das in der Diskothek zur Aufführung kommt. Thomas Köck wurde für seine Theatertexte bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kleist-Förderpreis, dem Dramatikerpreis der österreichischen Theaterallianz, dem Stückepreis des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises. 2018 erhielt er den renommierten Mülheimer Dramatikerpreis. Seine Stücke werden u. a. am Burgtheater und am Schauspielhaus Wien, am Nationaltheater Mannheim und am Thalia Theater Hamburg gespielt.

Der Hausregisseur des Schauspiel Leipzig Philipp Preuss inszeniert mit „atlas“ zum ersten Mal in der Diskothek, der Spielstätte für Gegenwartsdramatik.
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Pressestimmen

Deutschlandfunk Kultur
„Das ist textlich außerordentlich virtuos gebaut.“
kreuzer — Das Leipzig Magazin
„[Philipp Preuss] vertraut auf seine Schauspieler und die Macht des Zuschauer-Blicks in den realen Straßenraum. [...] Die Lebensgeschichten und Geschichtsreflexionen sind Gespinst, opak wie die verdoppelten Blicke durch und Widerspiegelungen auf den Schaufensterscheiben. Als das Licht erlischt und nur noch der Straßenverkehr vorüberzieht, ist das Publikum auf sich selbst geworfen.“
KULTURA-EXTRA
„Eine poetische Abhandlung über Geschichte und Zeit, die erst durch die Geschichte eine ordnende Struktur bekommt.“
LVZ
„Fast puristisch konzentriert und in der Sprache selbst genau und schlafwandlerisch zugleich. Was einerseits wie eine Séance wirkt, folgt andererseits einem klarem Blick beim erzählerischen Ineinanderfließen der Perspektiven und Zeitebenen. […] Überhaupt ist bemerkenswert, wie die Tonspur als maßgeblicher Inszenierungsbestandteil integriert wird. Nicht als Sound-Illustration, sondern als von Alexander Nemitz erschaffene akustische Nebelbänke, die sich wunderbar durch den Text und die Textur dieser Inszenierung ziehen. Und das über die gesamte Länge ihrer 100 Minuten, die mit langem Applaus enden und mit ein paar Bravos für den Autor.“
mephisto 97.6
„‚atlas‘ [...] ist gleichzeitig philosophisch, wenn über die Zeit und Geschichte gesprochen wird, und bedrückend. Darstellerisch ist es gut umgesetzt. Der Wechsel in den Spielorten, zwischen drinnen und draußen bringt einen neuen, sehr interessanten Aspekt in das Stück mit ein. Auch der Bogen, der von der Vergangenheit in die Gegenwart geschlagen wird, bereichert das Stück.“
nachtkritik.de
„‚atlas‘ ist ein starker Text über ein Knäuel vietnamesisch-deutscher Lebenslinien, aus dem trotzdem Behutsamkeit spricht. [...] Ein Stück, das vor allem von seinem Text lebt, trifft auf einen Regisseur, dessen Stil auf überwältigende Bilder setzt und dem keine Regieidee zu viel ist. [...] So minimalistisch hat man Philipp Preuss in Leipzig noch nie arbeiten sehen. [...] Ausdrucksvoll, aber nicht überbetonend erschafft das Darstellerquartett als Kollektivleistung eine gut verständliche Textfläche.“
Spiegel online
„Das Schauspiel Leipzig jedenfalls hat mit ‚atlas‘ gerade wieder ein Stück uraufgeführt, das tatsächlich kaum ‚welthaltiger‘ sein könnte. Es fächert eine über drei Generationen reichende Familiengeschichte auf, zwischen Ost- und Westdeutschland, Nord- und Südvietnam, Kaltem Krieg und ewig zeitlosen Großflughäfen. Und erzählt ganz nebenbei, völlig unpädagogisch und moralinsäurefrei, ziemlich aufschlussreich über unsere Gegenwart. [...] Weil Köcks Stück zudem auch sprachlich hochklassig ist, tut der Leipziger Uraufführungsregisseur Philipp Preuss gut daran, ihn weitgehend eingriffsfrei wirken zu lassen. Neben den Schauspielerinnen Ellen Hellwig, Sophie Hottinger und Marie Rathscheck sowie dem Schauspieler Denis Petković ist die wichtigste Akteurin die Bühne selbst.“
Der Stücke-Blog Mülheim
„Wenn Schauspielerin Sophie Hottinger […] die Bühne und die Spielstätte verlässt, taucht sie Augenblicke später hinter der Fensterfront wieder auf – ein wenig entrückt und zeitlich abgesondert. Ellen Hellwig gibt gleichzeitig in einem beeindruckend starken Monolog die Flucht von Südvietnamesen aus der im Jahr 1976 vom Norden besetzen südvietnamesischen Hauptstadt Saigon wider. Die im Wechsel mal sachte, mal ausfällige Hintergrundmusik kreiert dabei eine traurige Feierlichkeit und eine wunderbar dichte Atmosphäre, die die Vorstellungskraft des Publikums kaum stärker anregen könnte.“
Theater der Zeit
„Am besten funktioniert der Abend da, wo das Sprechen als solches Fahrt aufnimmt oder wo es wie bei der größtenteils unbeweglich auf einem Stuhl sitzenden Großmutter von Ellen Hellwig ein mühsames In-sich-hineinhören-Müssen, eine Tiefenbohrung durch die Sedimente des Schweigens, des Verdrängten ist.“
Theater heute
„Ein Begräbnis? Ein Empfang? Ein neuer Anfang? Die Geschichten bestimmen die Zeit, ob mit Auto, im Flieger oder in der Kutsche. So viel Autonomie bleibt immer.“
theater:pur
„Thomas Köck liefert mit diesem literarisch anspruchsvollen, formal höchst kunstvollen Text den Beweis, dass zeitgeschichtliche und politisch aktuelle Probleme nicht mit lehrhaften Attitüden und erhobenem Zeigefinger auf der Bühne behandelt werden müssen.“
WAZ
„Die sorgfältige Regie lässt die sprachlich erstklassige Vorlage beinahe unberührt. Zu sanften Elektro-Beats graben sich die vier weiß gekleideten Schauspieler tief in die Erzählung hinein. […] Insbesondere Ellen Hellwig, der Ältesten im Bunde, gelingen eindringliche Szenen von Flucht und Vertreibung.“
Premiere am 27. Januar 2019

Spieldauer

ca. 1:30, keine Pause

Team

Bühne & Kostüme: Ramallah Aubrecht
Dramaturgie: Katja Herlemann
Übersetzung und Beratung: Dr. Quang Truong
Licht: Carsten Rüger
Ton: Alexander Nemitz

Trailer

ZeitzeugInnen-Gespräch

Am 14. April 2019 fand ein Nachgespräch zu „atlas“ mit Beteiligten der Inszenierung, ExpertInnen und viet-deutschen ZeitzeugInnen aus West- und Ostdeutschland statt. mehr lesen